WiSe17 AK Rote Fäden der Studienreform

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Vorstellung des AKs

Verantwortliche/r: Stefan Brackertz (Uni Köln), Jakob Schneider (Uni Göttingen)

Arbeitskreis: Rote Fäden der Studienreform

Redeleitung
Stefan Brackertz (Köln)
Protokoll
Stefan Brackertz (Köln)

Wichtige Informationen zum AK

  • Ziel des AK: Austausch und Sortierung von Leuten, die an der Weiterentwicklung ihrer Studiengänge arbeiten (wollen)
  • Handelt es sich um einen Folge-AK: ja: SoSe17_AK_Rote_Faeden_der_Studienreform
  • Wer ist die Zielgruppe?: alle
  • Wie läuft der AK ab?: Inputs zu einzelnen "Fäden", möglichst aus der Studienreformdebatte verschiedener Unis. Jeweils anschließend Diskussion

Einleitung/Ziel des AK

Im Rahmen der Bachelor-Master-Umstellung vor gut 10 Jahren haben sehr viele und weitreichende Änderungen an unseren Studiengängen auf einmal stattgefunden. Spätestens seit den Bildungsstreiks 2009 ist klar, dass die Ergebnisse nicht gerade ideal waren. Seitdem hat es an fast allen Unis zahlreiche größere oder kleinere Veränderungen an den Studiengängen gegeben. Wir meinen es ist Zeit, die mal Revue passieren zu lassen und ein bisschen prinzipieller zu reflektieren, zumal viele Überarbeitungen ohne philosophisch-theoretische Background-Diskussionen an Hand konkreter Ärgernisse und Schwierigkeiten des Alltages teils von der Hand in den Mund entwickelt wurden.

Idee dieses Workshops ist es, dass einzelne Fachschaften in kurzen Inputs versuchen, rote Fäden / die Kernüberlegung hinter der bisherigen aber auch angedachten Weiterentwicklung ihrer Studiengänge (ideologiekritisch) vor- und zur Diskussion zu stellen. Wenn Ihr dazu mit einem Input beitragen wollt, tragt Euch bitte in die Liste der roten Fäden ein. Wenn dabei zu viele "Fäden" heraus kommen sollten, werden wir zu Beginn kurz klären, welche Priorität haben und welche wir in einen Bier-AK und / oder Nachfolge-AK verschieben.

Rote Fäden

  • Integration der Mathematik ins Studium (Köln)

Die Integration der Mathematik ins Studium liegt meist irgendwo zwischen eigenständigen Mathe-Halb-Bachelor und in Physik-Veranstaltungen integrierte Exkurse. Doch warum ist sie allzu oft so unerfreulich? Die Grundthese bei der Reakkreditierung in Köln war, dass das entfremdete Lernen von Hilfswissenschaften, Methoden usw. auf Vorrat der eigentliche Kern des Problems ist. Wir werden diese These kurz erläutern, vorstellen, wie dieses Problem bei uns beantwortet wurde und was eine radikale Lösung gewesen wäre, die man sich bei uns (noch) nicht getraut hat.

  • Lernen aus Widersprüchen (Köln)

Bei der Arbeit im Kölner Schülerlabor, wo Lehramtsstudis mit Schüler*innen an Themen wie Klima und Klimawandel arbeiten, wurde entwickelt, dass das systematische Arbeiten mit Widersprüchen (bezüglich der Interessen ebenso wie der fachlichen Vorstellungen) in mehrerlei Hinsicht sehr produktiv ist. Wir sind der Meinung, dass das prinzipiell auch fürs Studium gelten müsste und wollen einige Überlegungen zur Debatte stellen, was dies einerseits für die Übungen bedeuten könnte, und wie sich gemäß dieser Logik das Anfängerpraktikum ohne großen Aufwand deutlich sinnvoller gestalten lassen müssten. Brainwork in progress.

  • Lernen wie ein*e Geisteswissenschaftler*in? Spiralcurricula im Physik-Studium (Köln)

Unserer Beobachtung nach stimmen die Vorstellungen, wie naturwissenschaftliches Lernen funktioniere (streng systematisch aufeinander aufbauend) eher so halb. Die These ist: Wo es klappt ist immer auch ganz schön viel Hermeneutik - eine typisch geisteswissenschaftliche Methode - im Spiel. Stimmt diese These, wäre eine Konsequenz, Studiengänge gemäß eines Spiralcurriculums aufzubauen. Das wollen wir beispielhaft an den Kölner Ba-Studiengängen zeigen.

Protokoll

2 der 3 angekündigten roten Fäden werden aufgegriffen und diskutiert:

Integration der Mathematik ins Studium

Erhebung des Status Quo an den verschiedenen Unis

  • Es gibt sehr verschiedene Modelle und noch mehr Mischformen
  • Es gibt nur wenige Katastrophen aber auch selten "richtig Gutes".
  • Es gibt häufig Änderungen, an vielen Orten ist man dauernd auf der Suche nach Verbesserungen, allerdings kaum systematisch.

Ausführliche Vorstellung der Entwicklung in Köln in den letzten 15 Jahren

Stefan stellt die Entwicklung der Integration der Mathematik in die verschiedenen Kölner Physik-Studiengänge (Diplom Physik, Staatsexamen Lehramt Gym/Ge Physik, Bachelor Physik 1.0, Bachelor Physik 2.0, Bachelor Geophysik/Meteorologie 1.0, Bachelor Geophysik/Meteorologie 2.0, Bachelor Lehramt Gym/Ge) in den letzten 15 Jahren vor.

Thesen bei den Änderungen im Rahmen der letzten Reakkreditierung in Köln Bei der letzten Reakkreditierung der Kölner Studiengänge sollte die Integration der Mathematik ins Studium verbessert werden, denn die war zwar keine Katastrophe, aber dennoch für alle Beteiligten unbefriedigend. Dabei wurde zunächst länger diskutiert, was eigentlich das Problem ist, und dabei die folgenden Thesen entwickelt:

  • Lernen von Hilfswissenschaften oder Methoden "auf Vorrat" ist immer eine schlechte Idee, weil die Dinge dadurch bezugslos und damit unverständlich und demotivierend werden.
  • Insbesondere kommt es immer wieder vor, dass um "Zeit zu sparen" gegenüber den richtigen Mathevorlesungen abgespeckte "Mathe für xy"-Veranstaltungen angeboten werden, bei denen die Zeitersparnis dadurch erreicht wird, dass man sich Beweise und Beispiele spart und mehr zu Kochrezepten übergeht. Manchmal wird das durch verstärkte Betonung der Anschauung ein bisschen wieder repariert. Dennoch ist das Betrug, weil die Leute die Sachen wegen der Bezugslosigkeit entweder nicht verstehen und sich irgendwie durchmogeln, was sich später rächt. Oder sie investieren sehr viel zeit ins Selbststudium, dann ist es aber auch keine Zeitersparnis mehr, sondern im Gegenteil mühsamer, als wenn die Sachen gemeinsam in den Veranstaltungen von Anfang an richtig erarbeitet werden.

Angesichts dieser Analyse hat man sich darauf verständigt, dass

  • die Mathematik entweder als Exkurs in die Physikveranstaltungen eingebettet oder direkt daran angekoppelt werden soll, sodass auch in einer abgespeckten Version ein sinnstiftender Bezug da ist, oder
  • ) man sich die Zeit nehmen muss, ein Gebiet der Mathematik in seiner eigenen Systematik, Schönheit, historischen Entwicklung komplett und für sich stehend zu erarbeiten (und die Bezüge zur Physik erst später herzustellen), was dann normalerweise bedeutet, die Veranstaltungen der Mathematiker*innen komplett zu übernehmen.

Man hat sich zwar nicht getraut, dies komplett umzusetzen, ist aber einige deutliche Schritte in diese Richtung gegangen. Alle beteiligten sind sich nach 2 Jahren einig, dass die Analyse triftig war und die Änderungen zu deutlichen Verbesserungen geführt haben

Die Theses wurden ausführlich und an Hand vieler Beispiele diskutiert.

Weitreichende Reformkonzepte

  • Integrierte in situ / Projektarbeit ermöglicht, die Trennung von Inhalten des eigenen Faches und Methoden lebendig zu verbinden. Zudem bieten sie sich an, um alle Sinne anzusprechen, selbst produktiv zu sein und die Sichtweisen verschiedener Disziplinen miteinander zu verbinden. Hier sei exemplarisch auf die Dokumentation solcher in situ-Lehrformate am KIT verwiesen.
  • Es gibt amerikanische Hochschulen, die in jüngster Zeit mit Studiengängen gute Erfahrungen gesammelt haben, bei denen man sich nicht für ein bestimmtes Fach einschreibt, kein Studienverlaufskozeot hat und auch keine Prüfungen. Stattdessen kann man die herkömmlichen Veranstaltungen beliebig besuchen, schreibt aber mehrere Bachelor-Arbeiten, von deren inhaltlicher Ausrichtung letztlich das Fach auf dem Abschlusszeugnis abhängt. Diese Studiengänge ermöglichen einerseits herkömmlich zu studieren. Andererseits kann man aber auch direkt mit einer (produktiven, weil an die aktuelle Forschung angebundenen) Bachelorarbeit beginnen, sich dafür beliebig lange Zeit nehmen und diese Zeit nutzen, um sich in den Lehrveranstaltungen immer genau die Kenntnisse anzueignen, die man gerade zum Weiterkommen braucht. Dies treibt die "Exkurs"-Idee ins Extrem: Es wird nicht nur die Mathematik als Exkurs in die Physik integriert, vielmehr wird die gesamte Aneignung der Grundlagen auch der Physik als Exkurs in die Bachelorarbeit integriert. In der Praxis machen laut Berichten fast alle Studierenden zwischen den beiden Extremlösungen und die Erfahrungen damit scheinen vielversprechend zu sein. In Wuppertal gibt es eine vorsichtige Adaption dieser Idee. Dort gibt es einen 4-jährigen Ba-Studiengang "Naturwissenschaften", bei dem es im ersten Jahr auch kein Curriculum gibt. Nach einem Jahr spezialisieren sich die Studis dann in einer Naturwissenschaft und erhalten am Ende einen normalen Bachelorabschluss darin. Auch hier sind die Erfahrungen offenbar positiv.
  • In den leider nur schwer erhältlichen hochschuldidaktischen Werkstatthefte der Gesamthochschule Kassel aus den 70er und 80er Jahren sind viele Überlegungen und Erfahrungen mit Konzepten, die in diese Richtungen gehen, dokumentiert.

Lernen wie ein*e Geisteswissenschaftler*in? Spiralcurricula im Physik-Studium

Vorgestellte und diskutierte Thesen:

  • Es funktioniert selten überzeugend, wenn Veranstaltungen aufeinander aufbauen, weil
    • die Studierenden Dinge wieder vergessen haben,
    • die Dozierenden sich nicht richtig absprechen,
    • die Studierenden aus verschiedenen Gründen verschiedene Voraussetzungen mitbringen, weshalb nicht klar ist, worauf aufgebaut werden kann / soll.
  • Wenn man beobachtet, wie Physik tatsächlich gelernt wird, wie etwa eine Gruppe von Studierenden Übungen löst, hat das wenig mit dem Bild zu tun, das oft von Naturwissenschaften vermittelt wird, nämlich, dass systematisch klar aufeinander aufbauend gearbeitet würde. Vielmehr schärfen sich Einsichten, Lösungen etc. unter kreisenden gedanklichen Bewegungen Stück für Stück immer mehr heraus, bis sie am Ende als systematisches Ganzes aufgeschrieben werden können. Dabei wird mehr oder weniger systematisch ausprobiert, viel diskutiert, immer wieder wechselndes Material hinzugenommen. Ähnlich entwickeln sich Begriffe, Kategorien, universelle Strategien usw. Genau so funktioniert auch physikalische Forschung; jedenfalls ist sie nicht axiomatisch und beginnt mit einer festen Definition, auf die aufgebaut würde o.ä. diese Arbeitsweise ist das, was Geisteswissenschaftler*innen "Hermeneutik" nennen.
  • Es wird im Studium ein falsches Bild davon transportiert, wie Naturwissenschaften funktionieren. Das führt zu mehreren Problemen:
    • Faktisch sind Veranstaltungen nicht so konzipiert, dass man auf Anhieb alles verstehen könnte, sondern sind eher eine erste Kreisbewegung der Gedanken um das Thema. Weitere Kreisbewegungen finden statt, beim Lösen der Übungen, in den Übungen selbst, im Praktikum, beim Wiederholen für die Klausur (wer würde behaupten, dass das wirklich nur Wiederholen wäre, wie man etwa Vokabeln wiederholt), in weiteren Vorlesungen. Studierende, die das zu Beginn ihres Studiums noch nicht wissen und denken, sie müssten auf Anhieb alles verstehen, sind oft zu Unrecht eingeschüchtert mit all den negativen Folgen, die das nach sich zieht.
    • Weil Hermeneutik nicht als naturwissenschaftliche Methode gilt, lernt man sie nicht systematisch im Studium, sondern schaut sie sich im besten Fall ab. Das ist ein deutlich steinigerer Weg, als wenn man die Methode halbwegs systematisch lernen würde, wie etwa Geisteswissenschaftler sie lernen.
    • Veranstaltungen werden mit falschen Prämissen im Hinterkopf gestaltet und besucht.
  • In Köln wurde die Historie der Studiengänge mit der Historie der Evaluationen grob verglichen. Dabei hat sich heraus gestellt, dass es meist zu Verbesserungen geführt hat, wenn von aufeinander aufbauenden Veranstaltungen übergegangen wurde zu Veranstaltungen, die das gleiche Thema jeweils eigenständig von Anfang an beleuchten, dabei aber verschiedene Perspektiven / Zugänge in den Blick nehmen.
  • Bei genauerem Hinsehen sind viele Studiengänge an mehreren Stellen gemäß eines Spiralcurriculums aufgebaut: die gleichen physikalischen Themen werden in den Experimentalphysik-Vorlesungen, in den Theorie-Vorlesungen und im Praktikum behandelt, nicht strikt aufeinander aufbauend, sondern immer wieder von Neuem unter verschiedenen Blickwinkeln, mit Hilfe verschiedener Methoden und bei oftmals steigendem Niveau.
  • Vorschlag: Aus der Not eine Tugend machen: Wenn die Veranstaltungen im Wissen, dass man faktisch eh ein Spiralcurriculum hat, bewusst in diese Richtung weiter entwickelt werden (anstatt sich darüber zu ärgern, dass die studierenden schon wieder nicht mitbringen, was sie vermeintlich im Xten Semester können müssen, weil es ja im Yten hätte dran gewesen sein müssen) bietet das einige Vorteile:
    • Weniger falsche Hoffnungen und damit Enttäuschungen auf allen Seiten
    • Eine Arbeitsweise, die systematisch und nicht nur zufällig berücksichtigt, wie physikalische Forschung eigentlich funktioniert und damit zur Einheit von Lehre und Forschung beiträgt
    • Reduktion der strikten Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Veranstaltungen und damit ein flexibleres und selbstbestimmteres Studium, Stichwort: Entschulung
    • Dadurch u.a. deutlich bessere Möglichkeiten, in Teilzeit zu studieren.
  • In Köln gibt es schon mehrere Jahre einen Streit (zwischen Dozierenden), ob die theoretische Physik historisch-genetisch-klassisch (mit Kreuzprodukt in der Reihenfolge ihrer historischen Entwicklung, Maxwell als Verallgemeinerung von Coulomb...) oder axiomatisch-modern (ausschließlich Differenzialformen, maximal allgemein von Anfang an, ohne historischen Bezug, stattdessen von Anfang an Bezug zu modernen Ansätzen wie Topologie, Maxwell aus den Raumaxiomen herleiten...) gelehrt werden soll. Angesichts dessen bietet es sich an, die Grundlagen der Physik im Rahmen eines Spiralcurriculums bewusst in 5 verschiedenen Veranstaltungsreihen unter 5 verschiedenen Aspekten nicht aufeinander aufbauend, aber aneinander anschlussfähig zu lernen: Experimentalphysik, Praktikum, theoretische Physik historisch-genetisch-anschaulich mit Schwerpunkt auf den Grundzusammenhängen (und ohne Rechentricks), theoretische Physik axiomatisch-modern inklusive state-of-the-art Rechenmethoden, Computerphysik für den Simulationsaspekt. Ein Nebeneffekt wäre, dass man bei kluger Wahl der Reihenfolge erst relativ spät höhere Mathematik bräuchte. Dann müsste man die Studierenden mit der höheren Mathematik nicht direkt in den Anfangssemestern erschlagen, sondern könnte die ein bisschen über das ganze Studium verteilen. Auch könnte es motivierend sein, wenn der Anfang des Studiums auch tatsächlich mehr mit dem Fach zu tun hätte, für das man sich eingeschrieben hat. Umgekehrt schadet es auch nicht, wenn man im 4. Semester nochmal ein bisschen Mathe macht.

Und in Zukunft?

  • Es wird allgemein für sinnvoll erachtet, das Thema "Studienreform" weiter historisch / theoretisch / ideologiskritisch aufzuarbeiten. Dafür wird auch die Form des "Rote Fäden AK" beibehalten werden.
  • Da es leider wenig Fachliteratur gibt, ist man derzeit oft darauf angewiesen, Zeitreihen von Änderungen in Studienordnungen (und Evaluationsergebnissen) zu erarbeiten und darin Systematiken zu finden, was mühsam ist, aber auch Spaß machen kann.